Schloss-Strasse 10
Das «Fellhaus» der G. Neuenschwander Söhne AG (GNS) wurde 1877 gebaut und ist ein seltenes Beispiel eines weitgehend original erhaltenen Wohn-und Gewerbegebäudes aus der 2. Hälfte des 19. Jh. Der gross dimensionierte Bau in Riegkonstruktion und mit reichem Dekor repräsentiert den Schweizer Heimatstil. Im Westen befand sich der Wohnteil, im Osten waren die Trocknungs-und Lagerräume für Felle und Leder untergebracht. Die Hauptfassade betont die Symmetrieachse und weist ein filigranes Giebeldreieck auf. Seit Abschluss der Totalrenovation im Sommer 2015 wird das Haus durchwegs zum Wohnen genutzt.
Von Häuten und Fellen: Ausschnitte aus der Familien-und Firmengeschichte Neuenschwander
Der junge Gerbergeselle Johann Gottlieb Neuenschwander (1835-1903) aus Heimberg ging, wie es damals üblich war, vorerst auf Wanderschaft. Von Frankreich kam er in den 1850er Jahren nach Oberdiessbach. Während seiner Tätigkeit beim einheimischen Gerbermeister Ingold entdeckte er eine Marktlücke. Er machte sich um 1860 mit dem Handel von rohen und gegerbten Häuten und Fellen selbständig. Ein Jahr später vermählte er sich mit Marie Engel (1837-1922), die als Bauerstochter mit ihrer Schwester im Oberdorf einen Spezereiladen und ein Heimwesen führte. Damit war auch der Raum für den Warenumschlag gefunden. Wegen der Aufrüstung der europäischen Staaten im Vorfeld des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) stieg in den 1860er Jahren die Nachfrage nach Leder. Das Geschäft florierte. Allerdings musste Gottlieb anfangs um zwei Uhr aufstehen, um die Märkte in Bern, Thun und Langnau zu Fuss zu erreichen. In der einen Tasche trug er dabei das Geld für den Wareneinkauf, in der anderen den geladenen Revolver, um sich Wegelagerer vom Leib zu halten. Später erleichterten Pferd und Wagen die Aufgabe. Und als Oberdiessbach 1899 zu einer Station der Burgdorf-Thun-Bahn wurde (W14), konnten die bereits bestehenden Geschäftsbeziehungen in ganz Europa intensiviert werden. Dem Ehepaar wurden zwei Töchter und vier Söhne geschenkt. Auch sie legten schon in frühen Jahren Hand an im vielfältigen Einzelunternehmen (Bild). Da sich der Handel weiter erfreulich entwickelte, wurde 1877 der Startschuss zum Bau des heutigen Fellhauses an der Schloss-Strasse gegeben. Es vereinte unter seinem Dach Wohnungen, Büro-und Lagerräume sowie den neuen Spezereiladen (letzterer bis 1905, siehe: W11) und wurde schliesslich während knapp hundert Jahren als Firmensitz genutzt. Als die ältesten beiden Söhne Johann Gottlieb jun. und Christian Gottfried heirateten, wurde 1894 anstelle des Spezereiladens an der heutigen Schloss-Strasse 1 ein Zweifamilienhaus mit angeschlossenen Stallungen für die Pferde sowie Räume für den Fuhrpark der Firma gebaut. Gleichzeitig entstanden Lagerhäuser an der Kiesen und in Ostermundigen.
1903, nach dem Tod des Pioniers Gottlieb, traten seine vier Söhne das Erbe an. Sie formten aus dem ehemaligen Einmannbetrieb die Kollektivgesellschaft G. Neuenschwander Söhne (GNS). Ab 1908 wurde der Handel mit gesalzenen Häuten und Fellen an die neu gegründete Genossenschaft Zentralschweizerischer Metzgermeister ausgelagert, die von der GNS mitgegründet worden war. Der Handel mit trockenen Kleintierfellen und Pelzen überliess man im Gegenzug der GNS, die somit nebst dem Handel mit gegerbten Häuten einem neuen Geschäftsmodell folgte. 1909 kaufte die GNS ein Heimwesen in der Matte und legte es mit dem bestehenden Landwirtschaftsbetrieb zusammen. Der Obsthandel wurde an die Bernische Obsthandelsgenossenschaft überführt. Dies bedeutete eine Konzentration auf das Kerngeschäft und führte zu einem ansehnlichen Bodenbesitz im Dorf. In der Folge entstanden auf diesem Grundstück mehrere Wohnhäuser, sei es als Wohnraum für die wachsende Familie und weitere Mieter oder – im Fall des «Nussbaumhauses» an der Schloss-Strasse 13 – für die Angestellten. Die GNS ermöglichte auf ihrem Grundstück auch den Bau des ersten Spitals (A9). Im Vorfeld des ersten Weltkrieges war das Leder wiederum stark gefragt. Ein Ausfuhrverbot nach Kriegsbeginn setzte dem Handel aber Grenzen: Häute, Felle und Leder wurden nun staatlich bewirtschaftet. Nach dem Weltkrieg verringerte sich der Wert eines Fuchsfells 1920 innerhalb eines Jahres von 140 auf 40 Franken. Die Firma durchlebte schwierige Zeiten mit schlechten Geschäftsergebnissen. 1924 wandelten die Vertreter der dritten Generation die Kollektivgesellschaft in eine Aktiengesellschaft um. Nun konnte ein breiterer Kreis aus der Familie Neuenschwander-Engel Teilhaber der Firma werden. Bertha Neuenschwander-Lenz wurde nach dem Tod ihres Mannes Johann Gottlieb die erste Aktionärin. Johann Gottlieb hatte das soziale Gewissen der Firma in besonderer Weise repräsentiert. Er setzte sich als Grossrat u.a. für die Einführung der AHV ein. Die vierte Generation (ab 1947) senkte die Arbeitszeit. Sie führte 1957 die Fünfeinhalb- und 1971 die Fünftagewoche ein. Es wurde klar, dass man mit Häuten und Fellen nicht nur handeln, sondern aus der Rohware auch selber Lederwaren herstellen sollte. Den Handel mit Leder stellte man in der Folge ein. 1970 errichtete die Firma in der Hungachen (Industriestrasse 4) eine Zurichterei, ein Lagerhaus und 1974 ein Verkaufsgeschäft für Ledermode, das 1993 modernisiert wurde. Bereits 1955 war die Expansion ins Wallis erfolgt. Was mit einem Rohwarendepot begann, entwickelte sich im Verlauf der Jahre zur Filiale Sierre mit einem Cash&Carry für Metzgerei-und Restaurationsbetriebe.2017 erfolgte die komplette Neugestaltung des Verkaufsgeschäftes in Oberdiessbach. Die GNS positionierte sich damit als führendes Schweizer Ledermodegschäft. Auch der Bau von Mehrfamilienhäusern wurde vorangetrieben; mit den Überbauungen im Schlüsselacker und im Mattenpark legte sich die Firma ein wichtiges zusätzliches Standbein zu.
Die fünfte Generation (ab 1986) führte die Firma ins digitale Zeitalter. Seit 2002 unterhält die Firma auch einen Webshop und ist in den Social Media präsent. Sie ist damit definitiv in der Gegenwart angekommen.