Schloss-Strasse 50

Das neue, 1668-1671 erbaute Schloss schaffte einen für bernische Schlösser neuartigen Bezug zur umliegenden Landschaft: Es steht in der Ebene und greift mit zwei Alleen rechtwinklig nach Westen (am Fusse des Kirchbühls) und nach Süden (entlang dem Hungerberg) ins offene Gelände hinaus. Der Ehrenhof im Westen wird von zwei Eckpavillons flankiert. An den östlichen Hof schliesst der von einer Spaliermauer eingefasste Nutzgarten mit der Orangerie an. Kernstück der Gartenanlage ist der grosse, im französischen Stil gestaltete Garten an der südwärts verlaufenden Querachse. Er wurde 2006 nach Planvorlagen aus der Bauzeit vollständig rekonstruiert.

Der Erbauer des Schlosses war Albrecht von Wattenwyl. Vorbild war dabei nicht der französische – für hiesige Verhältnisse überdimensionierte – Schlossbau, sondern das für Paris typische Hôtel Particulier. Jonas Favre (1630-1694) aus Neuenburg – bekannt auch für seine Sakralbauten – realisierte in angemessener Weise die Wünsche des Berner Patriziers.

Die Familie v. Wattenwyl

Oberst Albrecht v. Wattenwyl (1617-1671), Erbauer des Neuen Schlosses Bild: Familie v. Wattenwyl

Mit der Familie v. Wattenwyl gibt es neben der Familie v. Diesbach ein zweites bernisches Patriziergeschlecht, das einen engen Bezug zu Oberdiessbach aufweist. Die Familie stammt ursprünglich, wie dies der Name sagt, aus Wattenwil im Gürbetal. Beim Geschlechtsnamen «von Wattenwyl» handelt es sich – wie bei allen mittelalterlichen Namen mit «von» – ursprünglich um eine Herkunftsangabe. Jacob, der Stammvater der Familie, 1356 erstmals urkundlich erwähnt, lebte in Thun. Sein Enkel Niklaus v. Wattenwyl (1380-1465), Schultheiss zu Thun, erhielt im Jahre 1453 von Kaiser Friedrich III. den Wappenbrief. Somit war der Aufstieg in das bernische Patriziat dokumentiert. Das Schild enthielt – im Gegensatz zu heute auf weissem Grund – drei rote Flügel (heutiges Wappen: siehe Bild 2). Dies in Anspielung auf den achten Vers aus Psalm 17. Niklaus gehörte zum Kleinen Rat von Bern– zur vom Patriziat geprägten Regierung, aber auch zum erweiterten Grossen Rat. Er war zudem Venner zu Pfistern und Vogt zu Aarburg – ein hoher Beamter und Militärführer. Der erste Schultheiss von Bern aus der Familie war 1512 dann Jakob v. Wattenwyl (1466-1525). Während das Patriziat anfangs des 16. Jh. gegenüber der aufkommenden Reformation grösstenteils kritisch gegenüberstand, war die Familie v. Wattenwyl offener für die neuen Gedanken. So schloss der älteste Sohn Jakobs, der Priester, Berner Diakon und Probst zu Lausanne, Niklaus v. Wattenwyl (1492-1551) nach dem Verzicht auf geistliche Würden 1525 die Ehe mit der Klosterfrau Clara von May (gest. 1571) und kaufte die Herrschaft Wyl (heute: Schlosswil). Aus dieser Verbindung entstammen 95% der heutigen Nachkommen der Familie v. Wattenwyl – darunter auch der aktuelle Schlossherr. Sie sind also sozusagen Kinder der Reformation!

Generationen später – 1648 – wurde Albrecht von Wattenwyl (1617-1671) Herr von Oberdiessbach (Bild 1). Dies, weil er von seinem Bruder Sigmund (1626-1660) die Freiherrschaft abgekauft hatte. Er diente als Oberst bei Louis XIV. im Schweizer Garderegiment. Den dort erworbenen Reichtum investierte er u.a. in ein neues Schloss. Er integrierte dabei die alte Anlage zumindest teilweise in das bestehende räumliche Umfeld. Seine Beziehung zu Frankreich und dessen Architektur zeigt sich überall am neuen Bau (siehe den neuen Kunstführer). Albrecht konnte sich über sein Werk nicht lange freuen. Er starb 1671 unverheiratet, wurde in der Familienkapelle (seitlich an die Kirche angebaut) begraben und mit einer lebensgrossen Skulptur geehrt. Nun wurde der Sohn seines Bruders Niklaus (1624-1679) als Erbe eingesetzt, auch er ein Niklaus (1653-1691). Er fühlte sich in der lebenslustigen Stadt Paris wohl. Nun kehrte er aber zurück und vollendete den Innenausbau des Schlosses ganz im Sinne seines Onkels.Nach seinem frühen Tod trat Albrecht v. Wattenwyl (1681-1743), sein ältester Sohn, das Erbe an. Im Gegensatz zu seinem Vater war er ein edelmütiger und frommer Mann. Als Herr auch über die Kirche berief er Pfarrer Lutz nach Diessbach und sorgte so dafür, dass unser Dorf zu einem Anziehungspunkt für die zweite Reformation, den Pietismus wurde (K8). Ganz im Sinne des sozial engagierten Pietismus errichtete er die Stiftung «Goldene Kette», die jungen, tüchtigen Leuten das Erlernen eines Handwerks ermöglichte. Sie wird heute im «Herrschaftsarmengut» fortgeführt und kommt Menschen zugute, die unverschuldet in Armut geraten sind. Albrecht vermachte die Herrschaft seinem Bruder Niklaus v. Wattenwyl (1683-1751), der Schultheiss des Äusseren Standes wurde. Diese «Schattenregierung» enthielt alle Ämter des Inneren Standes. Hier konnten sich jüngere Leute auf das Regieren und militärische Aufgaben vorbereiten. Diese Institution blieb – im Gegensatz zum Patriziat, das sich ab Mitte des 17. Jh. immer stärker abschloss – bis zuletzt (1799) offen für sämtliche Burger. Ihm folgten als Herren zu Diessbach gemeinsam die beiden Söhne Niklaus (1724 bis 1766) und Albrecht v. Wattenwyl (1725 bis 1793). Beide schlugen eine militärische Laufbahn ein. Charlotte (17601827), die jüngere Tochter von Albrecht, heiratete Carl Emanuel von Wattenwyl (1750 bis 1803) und brachte so die Schlossbesitzung und die Herrschaft Diessbach in die jüngere Belper Linie der Familie. Carl Emanuel war ab 1785 Mitglied des Grossen Rates und wurde 1788 bernischer Landvogt von Vevey.

Grabkapelle in der Kirche | Bild: ZuJ

Durch verschiedene Erbschaften war er zu einem der reichsten Berner geworden. Kein Wunder, dass ihn die Franzosen bei ihrem Einfall im Frühling 1798 als Geisel nahmen: Sie wollten so die Burgerschaft von Bern zwingen, das von ihnen verlangte Geld herauszugeben. Seine Rückkehr aus der Festung Bitsch im Elsass erfolgte erst nach einigen Monaten. Carl Emanuel war der letzte Herrschaftsherr, Richter und Gebieter in Diessbach. Nach der Revolution von 1798 wurden die Patrizier ihrer Herrschaftsrechte enthoben, konnten aber ihren Grundbesitz behalten. Albrecht Bernhard v. Wattenwyl (1782-1847) wurde zum Nachfolger von Carl Emanuel. Auch er engagierte sich politisch, nun einfach im Rahmen der neuen Möglichkeiten: 1805 war er Amtsstatthalter von Konolfingen, 1815-1831 Mitglied des Grossen Rates, 18191825 Oberamtmann von Konolfingen und 1821 Appellationsrichter. 1831 zog er sich zurück und widmete sich fortan der Landwirtschaft. Nach seinem Tod ging das Schlossgut an seinen Sohn Carl Rudolf Eduard v. Wattenwyl (1820-1874). Dieser war Fürsprecher, Gemeinderat, Oberstleutnant im Eidgenössischen Generalstab und Adjutant von General Dufour im Sonderbundskrieg (1847). Zur Zeit des neuen Bundesstaates sass er im kantonalen Parlament – dem Grossen Rat – und betätigte sich u.a. als Historiker («Die Geschichte der Stadt und Landschaft Bern»). Er vererbte die Herrschaft an seine Gemahlin Catherine Sophie von Sinner (1827 bis 1912) und ihren Sohn Ludwig Otto Eduard v. Wattenwyl (1852-1912). Auch er war Fürsprecher, Burgerrat von Bern, Mitglied des Grossen Rates und Major im Generalstab. Nach seinem Tod kam die Schlossbesitzung an seine Schwester Pauline Constance (1857-1922). Ihre Heirat mit Rudolf v. Wattenwyl (1845 bis 1914) brachte das Schloss wieder in die ältere Linie der Familie zurück. Auch Rudolf war Mitglied des Grossen Rates (1886 bis 1914). Sein Sohn Eduard Rudolf v. Wattenwyl (1891 bis 1978) übernahm in der Folge das Schlossgut. Er wirkte als Kavallerieoberst in der Schweizer Armee – und als Gemeindepräsident von Oberdiessbach. Während der eine Sohn, Eduard Albert Rudolf (1919-1995) Das Landgut Diessenhof übernahm (W5), ging das Schlossgut an Charles Hubert v. Wattenwyl (1927 bis 2006) über.

Einer der beiden Söhne von Charles, Sigmund v. Wattenwyl (*1960), verheiratet mit Martine (*1963) und Vater von vier erwachsenen Kindern, besitzt heute das Anwesen in 11. Generation. Er arbeitet als Landwirt und sorgt dafür, dass das ererbte Kulturgut erhalten bleibt. Dazu organisiert er Führungen und öffnet Teile des Schlosses sowie den Park für Festivitäten.

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